Vom Sichtbaren zum Ersichtlichen

Das Sichtbare ist noch nicht das Ersichtliche, ist nicht das Bild. Winzige Punkte formen Linien und Felder, verdichten sich zum Geflecht. Schwebend auf durchsichtigem Papier, über eine dünne Schicht Licht gesetzt, ahmen sie ein Stück Stoff oder Fell nach, geben als Trippelspuren die Idee einer Landschaft, durchsetzt von Strichelwegen, ausfransend in Wurzelfäden und Verästelungen. Zwischen zwei Glasscheiben gerahmt, machen die punktierten Zeichnungen von Paula Doepfner Impulse und Energien sichtbar. Jeder Punkt gibt sich als Abdruck sensibler Empfindung zu erkennen, traumhaft mit feinem Stift gesetzt, aus der Bewegung der Hand im rhythmischen Puls hingetupft. Kaum ist das Blatt berührt, zuckt die Bewegung zurück, hinterlässt im dauerhaften Erscheinen den Eindruck von Zurücknehmen und Verschwinden.

Paula Doepfners Arbeiten sind poetische Seismogramme. Sie halten sich in der genauen Mitte zwischen Erscheinen und Verschwinden, sind im Bleiben flüchtig, im Verflüchtigen bleibend und treffen als Sichtbarkeiten nicht nur die Netzhaut. Sie rühren an die feineren Nervenbahnen, an jene Wahrnehmung, die aus dem Sichtbaren das Ersichtliche, ein Bild gewinnt.

Unübersehbar ist die Nähe solcher Sichtbarkeiten zur Natur. Der Künstlerin Paula Doepfner sind Natur und Kunst keine Gegensätze; sie findet die eine in der anderen. Nicht, als wäre Kunst die Nachahmung von Natur, Natur das Wunschziel der Kunst. In Formen und Prozessen der Natur wird für Paula Doepfner fassbar, was sie beschäftigt, was auszudrücken und mitzuteilen ihr die Kunst ermöglicht.

Außenwelten werden zu Innenwelten, Inneres nach außen gesetzt. Aus dem Wald am Napf in den Ausstellungsraum hineingetragen, liegen Totholzäste, Laub und Moos zum Hügel geschichtet auf dem Boden. Natur zeigt sich als Material, als Erinnerung an den lebendigen Vorzustand. Zugleich ersteht das Urbild für ein Haus, ein bergendes Nest mit dem Umriss eines schlafenden Tiers. Vielleicht bergen Geäst und Gewirr im Innern ein Unerkennbares, ein verborgenes Geheimnis, unerreichbar, wenn nicht das Gehäuse zerstört, die Form, so rudimentär auch immer, ins Zufällige, willenlos Ungeformte zurückgeführt werden soll.

Was als Zitat aus Landschaft und Natur im Innenraum die Grenze zwischen künstlich und natürlich überspielt, hält sich wie die Zeichnungen zwischen den Glasscheiben im ausbalancierten Gleichgewicht: dort zwischen Erscheinen und Verschwinden, hier zwischen willkürlicher und unwillkürlicher Form. Zwar ist der Naturfund nach der Vorstellung der Künstlerin bewusst als Natürlichkeit arrangiert, aber zugleich überlässt sie die Feinstrukturen dem Zufall, den Fallgesetzen des Materials. Als solches bleibt Natur der Vergänglichkeit ausgesetzt, der Veränderung und Verfärbung im Verfallsprozess.

Die Zeit verändert die Form dieses Naturstücks, das Nachdenken über seine Bedeutung Inhalt und Sinn. Vielleicht will die Künstlerin mitten in einem sauberen und sicheren Haus das Ungestüme und Unsichere der Natur vor Augen führen, vielleicht eine Sehnsucht nach den wilden Wäldern wecken, nach der Freiheit von allem Zwang. Mag sein, sie will die Schönheit des Ungewollten postulieren. Vielleicht soll dieses Bild von Herbst und welkendem Leben aber auch an die eigene Sterblichkeit erinnern und die Lust auf das Lebendige wecken.

Die Antwort liegt im Wahrnehmen. Paula Doepfner legt das Sichtbare vor, um auf das Ersichtliche zu verweisen. Es ist ein offener Verweis, keine Aufforderung, die Sache so und nicht anders zu sehen. Die Kunst hält es mit dem Vieldeutigen, sie ist keine Gebrauchsanweisung.

Allem Überdeutlichen verweigert sich die Künstlerin. Das legen ihre Fotografien aus den Napfhügeln, vom Aufstieg zum Matterhorn und von den Gletschern über isländischen Vulkanen offen, beweist der Blick auf einen festgefrorenen Wasserfall. In einer Art von Restlicht entzieht sich das Sichtbare ins Ungefähre. Die Aufnahmen folgen dem Pendelschlag zwischen Erkennbarem und Unerkanntem. Traumbildern gleich umfangen diese Fotografien die Betrachter mit Stimmungen, wecken ein Empfinden, das sich dem Benennen zunächst noch entzieht und sich der Begrifflichkeit verweigert.

Eine Aura von Poesie und Traum ist um die Werke von Paula Doepfner, die so nachgiebig wie bestimmt Natur in Kunst, Kunst in Natur hinüberführt. Die Träume mit ihrer Gleichzeitigkeit von Verbergen und Enthüllen, von Zeigen und Verwischen sind dieser Künstlerin wichtig. Das unerreichbar Utopische des Traums ist ihrer Kunst ein Sehnsuchtsziel: traumhaft leicht und doch mit Sinn und Bedeutung geerdet, bietet sie sich der Wahrnehmung an als ein Mittel, dem Leben, sich selbst zu begegnen.

Eingeschlossen im kegelförmigen Gehäuse, die Augen verbunden, Kreidefarbe an den Händen, später mit dem schweren Ritterhelm auf dem Kopf, so fasst die Videokamera die Künstlerin in der Aufzeichnung ihrer Performance «Meine Gefängniszelle – meine Festung» ins Bild. Zu den Flageolettklängen und Mikrotonschritten eines Kontrabassisten erkundet Paula Doepfner die Begrenzungen des Innenraums, der sie von außen abschließt, an den sie sich selbst ausliefert. Die Performance zeigt, wie Paula Doepfner eigenes Erleben und Erfahren einsetzt und in ein Bild bringt, das – wieder im Spiel und Gegenspiel von Verbergen und Enthüllen, von Zeigen und Zudecken – den Zuschauern eine Sinnenbrücke baut, um vom Sichtbaren zum Ersichtlichen zu kommen, vom außen Gesehenen zum innen Erkannten.

Schlicht und einfach, so erscheinen die Arbeiten von Paula Doepfner auf den ersten Blick. Sie sind tatsächlich schlicht und einfach. Aber ihre Schlichtheit ist durch Reduktion gewonnen, ihre Einfachheit ein Kondensat aus Bedeutungen. Diese Kunst atmet traumhafte Poesie und ist von großer Leichtigkeit, doch zugleich intensiv und lebensnotwendig, wie nur existentiell – durch die Künstlerin, durch die Betrachter – beglaubigte Kunst zu sein vermag.

Urs Bugmann
November, 2010

Text für die Ausstellung „Paula Doepfner – Fallen“ in der Stadtmühle Willisau, Kanton Luzern.