Unweit vom Tiber – Für Paula Doepfner

Paula Doepfner stützt sich mit dem linken Arm auf ihr Zeichenbrett, in der rechten Hand hält sie einen Stift. Das Brett lehnt an der Wand ihres Studios in Esquilino in Rom, dem Viertel gleich hinter dem Zentralbahnhof. Auf dem Brett ist ein großes Blatt Gampi Papier befestigt. Das Gampi ist so zart, dass die Unterlage des Zeichenbrettes durch die Fasern des Papiers scheint. Weiße Baumwollhandschuhe auf Doepfners Händen schützen Blatt und Tinte. Ruhig und konzentriert sitzt sie auf einem Schemel. Die Sonne zieht an den Fenstern vorbei und fällt durch halb offene Blenden. Paula Doepfner schreibt eine Zeichnung.

Sie blickt immer wieder zur Seite. Auf einem Beistelltisch liegen eine Skizze und ein aufgeschlagenes Buch. Die Skizze hat sie viele Wochen davor angefertigt, als sie in einem Operationssaal der Berliner Charité saß. Die Schädeldecke eines Patienten wurde geöffnet, der Geruch von Innereien verteilte sich im Saal. Der Hirnchirurg entfernte einen Tumor. Doepfner saß einen Meter daneben, blickte auf freigelegte Hirnwindungen und zeichnete. Jetzt liegen diese Skizzen neben ihr und Doepfner verwendet sie als Vorlagen für ihre großformatigen Zeichnungen. Sie sitzt ganz nah am Brett und fixiert jeden Strich, den sie setzt. Der Rapidograph 0.13 in ihrer Hand ist der dünnste Tintenstift, der produziert wird. Die Striche, die sie auf das Papier führt, sind Buchstaben. Man muss die Augen zusammenkneifen, um die millimetergroßen Buchstaben entziffern zu können. Der Titel des Buches neben ihr lautet: A Radiologic Atlas of Abuse, Torture, Terrorism, and Inflicted Trauma. Das Buch ist eine Anleitung zur Dokumentation von Folter. Durch Röntgenaufnahmen werden tief im Körper vergrabene Spuren freigelegt und entziffert.

Auf einem Tisch neben Doepfner liegen weitere Bücher, Decreation von Anne Carson, Gedichte von Giuseppe Ungaretti und von Durs Grünbein und auch Theorie, The Conscious Mind von David Chalmers, ein Buch über die Philosophie des Geistes. Später wird sie eines der Bücher nehmen und einige der Zeilen in ihre Zeichnung schreiben. Sie mischt häufig: Theorie, Dichtung, Praxis. Das ist Teil ihrer Suche nach dem subjektiven Erleben. Tritt man nur einen Schritt vom Brett zurück, verschwinden die Zeilen und eine organische Form wird sichtbar, die so häufig in der Natur vorkommt, Nerven, Flüsse, Blitze.

Das Studio ist eng und hat wenig Platz für ihre anderen Arbeiten, deshalb geht Doepfner am nächsten Tag zu einer Garage im Süden Roms. Unweit fließt der Tiber. Aus ihrer Tasche holt sie gepresste Pflanzen, Harz und Pigmente. An einer der Garagenwände lehnt eine eingeschlagene Panzerglasscheibe. Die Scheibe stammt von einem Einbruchsversuch in ihrer römischen Nachbarschaft. Doepfner befestigt die Pflanzen auf der Scheibe und arbeitet mit dem Pigment darauf, im Hinterkopf immer die Hirnregionen ihrer Skizzen. Vor ihren Augen die in das Glas gezeichnete Gewalt. Auf dem Weg zurück zum Esquilino, schaut sie kurz in einer Eisfabrik vorbei. Sie bringt eine Anleitung, einen Zweig vom Rhododendron und ein Blatt festes Papier, auf das sie einen Auszug aus David Chalmers Theorie des schwierigen Problems des Bewusstseins geschrieben hat. Das Blatt und der Zweig werden in einem zweihundertfünfzig Kilo schweren Block Eis eingefroren. Der Eisblock wird später in einer Metallform schmelzen, Pflanzen und Text werden wieder sichtbar, lesbar gemacht.

Am Abend sitzt Paula Doepfner wieder im Studioraum und schaut auf die Buchstaben ihrer Zeichnung. What Is it Like to Be a Bat? In etwa vier Wochen wird die Zeichnung fertig sein.

Leszek Stalewski
Dezember 2019

Text für das Literaturmagazin „Ostragehege“, Dresden.