Manifeste der Sinnlichkeit

 

Paula Doepfner befasst sich mit dem Zusammenspiel von Natur und Kunst, mit Gefühl und Wissenschaft. Sie schafft ein Spannungsverhältnis zwischen Emotionalität und Rationalität sowie Harmonie und Unruhe. Ihre Werke stellen den Betrachter vor die Auseinandersetzung mit dem Feld der Emotionen und neuronalen Prozesse. Um diese Erfahrung zu realisieren, arbeitet sie mit Materialien wie Glas, Pflanzen oder auch Eis. Bereits hier wird deutlich, dass der Prozess der Veränderung in ihren Werken eine essentielle Rolle spielt.

Ihr Werk situiert sie in einer Sphäre zwischen wissenschaftlicher Auseinandersetzung und künstlerischer Verarbeitung. Sie schlägt einen Weg ein, der sie näher an die Wahrheit über unsere Gefühle heranführen könnte. Das Unfassbare wird fassbar, so dass auch der Betrachter die Möglichkeit bekommt, der verborgenen Welt des Bewusstseins etwas näher zu kommen und eine individuelle Wahrheit in ihren Arbeiten zu finden. Zu den materiellen Werken tritt die Performance hinzu. Paula Doepfner bringt im Zusammenspiel mit Musik und Klängen Momente von Nähe und Befremdlichkeit zugleich in den Ausstellungsraum.

 

Manifest in Eis

Der Begriff »Natur« wird vom lateinischen »nasci« abgeleitet, das in seiner Bedeutung den Wörtern »gezeugt« oder »geboren werden« entspricht. Dies ist im Sinne eines Prozesses zu verstehen, in dessen Verlauf etwas entsteht und sodann mit der Zeit einer Veränderung unterliegt.

Die Natur, als historischer Begriff, setzt nicht unmittelbar ein ausgewogenes Verhältnis und damit ›Schönheit‹ in ihrer Erscheinung voraus. Vielmehr treten in der neuzeitlichen Auseinandersetzung die physikalischen Gesetzmäßigkeiten in den Vordergrund. Darin ist sowohl das Unästhetische wie auch das Ästhetische Bestandteil des Ganzen. Eine einheitliche und allumfassende Definition des Begriffes scheint unmöglich, da jede Erfahrung von Natur durch kulturelle und gesellschaftliche Prägungen beeinflusst ist. Dies prägt auch die Kunst, die sich mit der Natur auseinandersetzt. Individuelle Perspektiven und momenthafte Erfahrungen sind unausweichlich Bestandteil einer solchen.

Die Arbeiten von Paula Doepfner, in denen sie sich mit dem Material Eis auseinandersetzt, stellen diesen Vorgang verbildlicht dar. Kunst und Natur bilden hier keine Gegensätze. Vielmehr entsteht eine Symbiose der gegensätzlichen Pole, die allerdings nicht offenlegt, welche konkreten Einflüsse beide aufeinander haben.

Daraus ergibt sich eine ästhetische Erfahrung, die die Teilhabe am Werk und dem umliegenden Raum gleichermaßen beinhaltet. Die Positionierung der Kunst verschiebt sich von einem entfernt von Leben und Gesellschaft befindlichen Standpunkt hin zu einem Raum, der die Möglichkeit eröffnet, selbst gewissermaßen experimentell mit Paula Doepfners Werken umzugehen. Dies ermöglicht eine individuelle Erfahrung, die mit der stetigen Veränderung des Werkes einhergeht, bis ein ›Gesamtbild‹ der Sinnlichkeit entsteht.

 

For you I have been absent in the spring

Auf dem Boden des Ausstellungsraums befindet sich eine rechteckige Metallwanne. In ihr liegt ein anfangs ebenfalls rechteckiger Eisblock, der mehrere Materialien in sich trägt. Das Eis stellt eine undurchsichtige Hülle dar, die den Blick des Betrachters auf das, was sich in ihm befindet, erschwert. Schon einige Minuten des eintretenden Schmelzvorgangs reichen aus, um den Blick auf die einzelnen Bestandteile preiszugeben. Es wird ersichtlich, dass sich sowohl eine beschriebene Papierseite, wie auch Disteln, Zweige und Moos in der Eishülle befinden und scheinbar in einem Moment der Schwerelosigkeit darin festgehalten sind.

Im Verlauf des Verdunstungsvorgangs verändert sich dies deutlich. Pflanzen beginnen nach dem Auftauen wieder zu wachsen, andere Zweige und Sträucher vertrocknen. Ein permanenter Prozess des erneuten Aufblühens und wieder Vergehens beginnt. Auch die Metallwanne wird dem Prozess der Veränderung unterzogen. Das geschmolzene Wasser, das erst nach geraumer Zeit verdunstet, scheint sich regelrecht in das Metall zu fressen, sodass eine orangene ›Zeichnung‹ aus Rost entsteht. Im Zusammenhang mit diesen Prozessen, die einen grundlegenden Bestandteil von Paula Doepfners Werk ausmachen, wird der Betrachter in die Situation gebracht, die aufgezeigte Vergänglichkeit aushalten zu müssen, und aufgrund der Positionierung des Werkes inmitten des Raumes ohne jegliche Art von Sockel aufgefordert, seinen Standort zu wechseln und das Werk anhand mehrerer Blickwinkel in seinen einzelnen Aspekten zu erfassen. Diese Partizipation des Betrachters stellt eine veränderte Teilhabe am Kunstwerk selbst dar und beinhaltet die Fragestellung nach der eigenen Position im Raum.

Da der Zufall bei den Arbeiten aus Eis eine große Rolle spielt, ist nur eine individuelle und prozesshafte Rezeption der Werke möglich. Dabei können die sich verändernden Zustände als eine Art Erinnerung beschrieben werde, die keinen Abschluss findet. Aus Eis wird Wasser und daraufhin Roststaub und selbst an diesem Punkt findet der Prozess an kein Ende. Paula Doepfner verwendet die einzelnen Bestandteile wie die rostbesetzte Metallwanne in anderen, später folgenden Werken wieder und schafft auf diese Weise eine fortlaufende Verknüpfung zwischen den einzelnen Fassungen und Werkzuständen. Der Vorgang der Transformation löst sich von den Gesetzen von Raum und Zeit. Einerseits ist die Veränderung der Materialien tief in den Gesetzen der Physik verankert, andererseits befindet sie sich außerhalb jeglicher naturwissenschaftlicher Erklärung. Somit entsteht in der Betrachtung nahezu ein traumähnlicher Zustand. Der Traum als Bestandteil des Schlafs, Schlaf als Quelle der menschlichen Energie. Ein Kreislauf, der das irdische Leben erhält und als Vorgang dennoch kaum zu fassen oder einzuordnen ist.

Der Titel des Werks stammt in einer abgewandelten Form aus dem »Sonett 98« von Shakespeares. Inhaltlich setzt sich das Gedicht mit der örtlichen Trennung zweier Geliebter und den damit verbundenen Gefühlen auseinander. Der Kreislauf der Jahreszeiten, der Freude wie auch Trauer mit sich bringt, wird unbedeutend. Lediglich der Winter erscheint dem lyrischen Ich als angemessener Zustand, um zu verweilen. Eine Thematik, die in Paula Doepfners Darstellung aufgenommen und verbildlicht wird. Die Pflanzen werden eingefroren, ein Moment wird festgehalten, eine Erinnerung. Der Schmelzvorgang ist jedoch nicht zu stoppen, jener Zustand kann nicht für die Ewigkeit bewahrt werden. Es ist unumgänglich, dass eine Veränderung geschieht, sodass der Moment selbst zur Erinnerung wird und mit seinem Vergehen in der Zeit verblasst.

 

Gedankenstränge

Auch Paula Doepfners Punktzeichnungen auf Gampi-Papier stellen den Beginn einer Auseinandersetzung mit neurologischen Prozessen dar und greifen das weite Spektrum der Gefühle auf. Das handgeschöpfte Papier, auf dem sich die nervenartigen Gebilde abzeichnen, ist ebenso sehr fragil wie robust. Ein Spannungsverhältnis, das sich beginnend im Material wie ein roter Faden durch das Werk der Künstlerin zieht und das Zusammenspiel von Natur und organischen Strukturen des menschlichen Körpers sichtbar macht, das sich aus den einzelnen, sich überlagernden Punkten herausbildet.

Diese Auseinandersetzung spinnt sich mit der Verarbeitung lyrischer wie auch wissenschaftlicher Texte fort. Einzelne Buchstaben übernehmen den Platz der Punkte und verleihen den Zeichnungen eine weitere emotionale Bedeutungsebene. Die verwandten Schriften und Textauszüge stammen etwa aus Songtexten von Bob Dylan, wobei die Bewältigung von Konflikten und Gefühlszuständen, die mit zwischenmenschlichen Beziehungen einhergehen, eine zentrale Rolle spielen. Den Gegenpol zu diesen subjektiven, emotional aufgeladenen Texten bilden sachliche wissenschaftliche Berichte der Neurowissenschaft, sodass Paula Doepfner ein inhaltliches Spannungsverhältnis zwischen intimen emotionalen Vorgängen und allgemeingültigen wissenschaftlichen Analysen erzeugt. Diese Verästelungen verbinden die unterschiedlichen Herangehensweisen mit dem Feld der Emotionen und nähern sich einem ganzheitlichen Verständnis der Gefühlswelt.

 

Did you ever wish me dead, oh lover boy oh fever head

Der Titel des Werks ist eine Passage aus dem Refrain des Songs »Legs« von P.J. Harvey. Das Stück befasst sich mit einer Beziehungkrise. Das Textfragment des Philosophen David Chalmers wird in Form einer Raute angeordnet. Die einzelnen Buchstaben verbinden sich auf diese Weise zu einem Gesamtkonstrukt. Der Text tritt in seiner charakteristischen und vor allem lesbaren Erscheinung zugunsten der grafischen Form in den Hintergrund. Er ist zwar noch lesbar, aber nicht auf den ersten Blick zu identifizieren. Der Inhalt bricht offen aus der Form der rational gefassten Kontur.

Einzelne Stränge lösen sich von diesem Fragment und verbinden es mit ebenfalls rautenförmigen Farnblättern, die der Schrift von oben herab entgegenzuwachsen scheinen und durch den Pressvorgang selbst eine grafische Erscheinung gewonnen haben. Die an den Pflanzen belassenen Wurzeln verstärken diese Wahrnehmung und nehmen die Prinzipien der Nervenstränge in ihrer Darstellung auf. Der Weg hin zur Erfassung der Gesamtheit des menschlichen Daseins mit all seinen gefühlvollen, wie auch rationalen Aspekten wird fortgeführt, sodass die unfassbare Sphäre, in der sich das Werk befindet, sinnbildlich vor Augen tritt.

Daraus entsteht ein verzweigtes Konstrukt aus natürlichen Materialien und menschengeschaffener Schrift. Die immanente Spannung wird durch die sich auffächernden Textstränge aufgenommen und zugleich zu einer harmonischen Gesamtheit zusammengefasst.

 

Splitter der Erinnerung

Glas besteht aus geschmolzenem Sand. Das Material durchlief bereits einen Prozess der Veränderung. Paula Doepfner belässt es allerdings nicht im vorgefundenen Zustand, sondern fügt ihm verschiedene Bearbeitungsspuren zu. Die von Vandalismus gezeichneten Panzerglasscheiben werden von der Künstlerin weiterführend bearbeitet. Das Material konserviert diesen Moment von Wut oder Verzweiflung und bewahrt sie noch in den Werken der Künstlerin. Bei all diesen Arbeiten schwingt der politische Hintergrund der mutwilligen Zerstörung mit. Vordergründig ist in diesem Zusammenhang die Gentrifizierung zu nennen, die im Sozialen solch zerstörerische Kräfte hervorruft. Die gesprungenen Glasscheiben fungieren dabei als Bildträger für Pflanzen, die Paula Doepfner zum Höhepunkt ihrer Blüte trocknet und presst. Im Zusammenspiel mit unterschiedlichen Farbpigmenten werden diese Pflanzen in einer Art von temporalem Schwebezustand festgehalten. Dieser baut durch diese einbehaltene Schönheit einen spürbaren Gegensatz zur impliziten rohen Gewalt auf und vereint beide Pole in einem Werk.

And there’s no use in tryin’ to deal with the dyin’ though I cannot explain that in lines 

Das Werk aus dem Jahr 2014 zitiert Bob Dylans »To Ramona« und thematisiert das Moment der Flüchtigkeit und stetigen Veränderung des menschlichen Lebens. Die Arbeit ist eine der Ersten, in der zerstörtes Panzerglas erscheint. Ein konservierter Augenblick, der sich in die Erinnerung gräbt, was sich noch in den festgehaltenen Blüten zwischen den Scheiben zeigt. Bei aller Gegensätzlichkeit ist beiden Polen das erinnernde Bewahren einer spezifischen Erinnerung an Wut, Verzweiflung, Liebe oder Trauer eigen, womit Paula Doepfner eine Analogie zu kognitiven Prozesse eröffnet, die Eindrücke als Erinnerungen bewahren und zu Gefühlen verarbeiten. So greifen die gesprungene Glasscheibe wie auch die pflanzlichen Verästelungen die neuronalen Verzweigungen des Nervensystems auf und werfen sich wie ein Netz aus immateriellen Erinnerungen als Schattenzeichnung sichtbar und damit gedanklich fassbar auf die Wand.

 

It’s all just a dream, babe, a vacuum, a scheme, babe

Auch dieses Werk aus dem Jahr 2016 bezieht sich auf Dylans »To Ramona«. Verbindend zwischen den Werken steht sowohl der Ausdruck eines überwältigenden Gefühls als auch eine politische Aussage, die im Titel verankert ist.

Die Glasscheibe befindet sich auf einer schwarzen Stehle. Dem Betrachter bietet sich auf Augenhöhe ein Bild der Verwüstung. Es sind starke ›Bearbeitungsspuren‹ zu erkennen, die in diesem Fall von einer tatsächlichen gewalttätigen Auseinandersetzung herrühren. Die Pflanzen, die in diesem ›Erinnerungsfenster‹ bewahrt werden, tragen die Zerstörung selbst in sich. Sie scheinen gar inmitten der gesprungenen Scheiben zu bluten und mit dem farbigen Pigment, das im Innern des Glaskörpers herunterläuft, ihr Inneres nach außen zu kehren. Sie erlangen geradezu eine leibliche Anmutung, als wären sie Teil des Erinnerungsprozesses.

Paula Doepfner bezeichnet derartige Werke als ›Zeichnungen‹, die sich in einer Sphäre zwischen Bild und Raum sowie zwischen Raum und Zeit befinden. Und mit dem Vergehen jener wird erkennbar, dass sich auch die Farbigkeit der Blüten im Laufe der Zeit anders verhält, als es bei Pigment sonst üblich der Fall ist. Ihr Ausbleichen hebt das konstant farbige Pigment als unveränderten Aspekt des Werks hervor, der wiederum den anfänglichen Zustand der Arbeit in sich bewahrt.

 

Klangraum

Unter diesem Gesichtspunkt wird auch in Paula Doepfners Performances das Vergehen der Zeit zu einem zentralen Thema. Zeitlichkeit wird auf verschiedene Arten verbildlicht, sodass sie als Bindeglied zwischen verschiedenen Performances fungiert. Äste, Zweige und das sich daran befindendes Blattwerk werden beispielsweise zu Installationen, die als Erinnerung an vorangegangene Aufführungen bestehen bleiben.

Ebenso die Musik. Auch sie ist ein Medium, das sich nur in der Zeit entfalten kann. Töne erklingen einzig im raumzeitlichen Verlauf. Eine Möglichkeit, einen einzelnen Moment festzuhalten, gibt es nicht. Das Vergehen der erklingenden Töne trägt den ephemeren Charakter der Musik. Individuelle Augenblicke, die im Moment ihres Entstehens bereits vergangen sind. Schon früh kam Paula Doepfner mit der Kompositionslehre, mit den harmonischen und strukturellen Prinzipien der Musik in Berührung. Von diesen wendet sie sich in ihren Performances allerdings bewusst ab. Die Klänge etwa eines begleitenden Streichinstruments bewegen sich zumeist um einen einzigen Ton. Dissonanzen und rhythmische Verklärungen werden Teil des Ausdrucks. Fernab einer komponierten Partitur steht auch hier das situative Gefühl im Vordergrund. Aus diesem heraus erklingen Töne und Geräusche, die kaum in einer Notation zu fassen wären. Eine Wiederholung des Erklungenen ist daher nicht möglich, die Vergänglichkeit umso offenbarer. Doch nicht mit dem Gedenken an die Vergänglichkeit aller Dinge oder die eigene Sterblichkeit, sondern vielmehr als Verbildlichung stetiger Veränderung.

 

I gave him my heart but he wanted my soul

Wieder Bob Dylan. In diesem Fall jedoch mit umgeschriebenem Text, sodass er dem Blickwinkel einer weiblichen Protagonistin entspricht. Die schmerzhafte Trennung von einem geliebten Menschen ist auch hier, im Song »Don’t think twice it’s all right«, die zentrale Problematik, die lyrisch-emotional verarbeitet wird.

Eine Ansammlung von Astwerk türmt sich auf. Inmitten dessen liegt Paula Doepfner zwischen den Zweigen, beinahe als lebendiger Teil dieser Verästelungen. Ihr gegenüber sitzt ein Kontrabassist. Auf intuitive Art und Weise kommunizieren sie miteinander. Gemeinsam schaffen sie einen unsichtbaren, wenngleich spürbaren Raum aus Klängen und Geräuschen. Die Künstlerin bewegt sich in ihrem Kokon aus Blattwerk, sodass das Knistern der einzelnen Blätter hörbar wird. Der Kontrabassist nimmt diese Bewegungen auf und spielt in ›tonlosen‹ Klangfarben scheinbar ihr Inneres nach außen. Es entsteht ein Schwebezustand, er den gesamten Raum erfüllt. Die Musik selbst wird nicht mehr als solche wahrgenommen, sondern verschmilzt mit den Lauten der trockenen Blätter zu einem Gewebe aus Geräuschen, die eine differenzierte Wahrnehmung der einzelnen Klangquellen fast unmöglich macht.

Diese Momente werden als Tonbandmitschnitt aufgezeichnet, der sodann während der Ausstellung abgespielt wird, sodass sich der eigentlich vergangene Klangraum konstant über die Installation legt und einen Ort der Erinnerung schafft. Ein Ort, der sich verbindend über die anderen Werke der Ausstellung hinweg ausbreitet und den gesamten Raum einnimmt. So legt Paula Doepfner ein unsichtbares Band aus Tönen um die Werke. Auf eine fast schon mystische Weise sind sie miteinander verbunden und offenbaren ihren flüchtigen und doch verweilenden Charakter.

 

Der Ort im Kunstwerk

Die natürlichen Materialien von Paula Doepfners Installationen legen die Überlegung nahe, sie aus dem Ausstellungsraum herauszuholen und sie in ihrer gewohnten Naturumgebung zu verorten. Doch dabei ginge die prägnante Kontrastwirkung zwischen Installation und natürlicher Umgebung verloren. Und dieser Dialog zwischen Werk und Raum und Betrachter steht schließlich gerade im Vordergrund.

Das wechselseitige Verhältnis von Ort und Subjekt, verkörpert in einem Kunstwerk, tritt ausdrücklich seit den 1960er Jahren in die Kunst. Zunächst setzt die Minimal Art das Kunstwerk vordergründig mit dem es umgebenden Raum in Verbindung, sodass ein Austausch zwischen Werk, Ort und Betrachter entsteht. Eine Unverrückbarkeit und somit eine spezifische Ortsgebundenheit ist bei Paula Doepfners Werken nicht unmittelbar vorhanden. Ihre Werke setzen sich hingegen intensiv mit der Verortung des Werkes im Raum und dem Verhältnis zum Betrachter auseinander. Die enge Verbindung eines Werkes mit dem es umgebenden Raum wird vor allem in ihren Performances deutlich. Es zeigt sich jedoch vordergründig durch die Verortung der Werke in einem Ausstellungsraum, fern ab jeglicher natürlichen Umgebung. Die Unruhe der sorgsam arrangierten Verästelungen steht dabei in einem optischen Gegensatz zu den klaren weißen Flächen der sie umgebenden Wände. Das künstlerische Objekt geht auf diese Weise eine optische Verbindung mit dem Raum ein. Diese bleibt nach der Performance als Erinnerungsobjekt an eben jene Beziehung erhalten, sodass das Spannungsverhältnis zwischen Künstlerin und Musiker, Natur und künstlichem Umfeld sowie Kunstwerk und Raum für den Betrachter erfahrbar bleibt.

 

Raum der Sinnlichkeit

Paula Doepfner schafft mit ihren Werken einen Raum der Erinnerung, der die Fähigkeit besitzt, ein breites Spektrum an Gefühlen zu verkörpern oder beim Betrachter hervorzurufen. Die Konfrontation mit solchen Verbildlichungen von Wut, Verzweiflung, Liebe oder Trauer wirft den Blick auf das eigene, betrachtende Selbst. Individuelle Erinnerungen und Gefühle werden aufgerufen, die es fast unmöglich machen, nicht in den so geschaffenen Raum der Sinnlichkeit einzutauchen.

Dabei übernehmen die Werke selbst die Rolle des Vermittlers zwischen den Subjekten. Unendlich viele individuelle Perspektiven eröffnen dabei unkonventionelle Möglichkeiten der Rezeption. Erinnerungen, die ihren umfassenden Inhalt nie ganz preisgeben werden. Die Rezeption der Werke wie auch die Werke selbst sind somit nie abgeschlossen. Sie überschreiten die Grenzen von Raum, Zeit und Distanz der Betrachtung, sie heben sich auf diese Weise aus der bloß materiellen Welt in eine unfassbare Traum- und Gefühlswelt. Die unterschiedlichen Materialien aus Natur und Gesellschaft verbinden sich zu einem großen Erfahrungsraum. Wie einzelne Nervenzellen miteinander verknüpft sind, so schafft auch Paula Doepfner ein kommunizierendes Netz, in dem die einzelnen Werkgruppen verschmelzen und zu einem gefühlvollen Manifest der Sinnlichkeit werden, in dem man sich verlieren und zugleich das eigene Selbst wiederfinden kann.

 

Vanessa Braun
2016

Text für die Ausstellung „Paula Doepfner – Put it right here (or keep it out there)“ im Kunstverein Reutlingen.