Professor Marion Ackermann
Laudatio für Paula Doepfner zur Verleihung des Hans Platschek-Preises für Kunst und Schrift

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Gäste. Ich fühle mich sehr geehrt, hier sein zu dürfen. Danke, Frau Wirtz, Frau Blaß, Herr Jarmuschek und natürlich vielen Dank, Frau Groenewold und Herr Groenewold. Bitte auch viele Grüße an Bettina Steinbrügge, die leider nicht hier sein kann. Vielen Dank für die Einladung hier als Jurorin für den Hans Platschek-Preis zu fungieren. Ganz besonders freue ich mich natürlich, dass Paula Doepfner selbst hier ist und auch neue Arbeiten für den Stand auf der art Karlsruhe entwickelt hat.

Diese mit dem Preis verbundene Aufgabe hat ja etwas ganz Persönliches. Wir haben es schon gehört, man darf sich ganz alleine für einen Künstler oder Künstlerin entscheiden. Und ich würde sagen, dadurch entsteht auch eine ganz besondere, intensive Beziehung. Ich habe Paula Doepfners Werke das erste Mal im Studiensaal unseres Kupferstich-Kabinetts der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden gesehen. Es ist erst wenige Monate her. Der Studiensaal ist auch ein ganz besonderer Ort. Er ist auf demokratische Weise für alle Menschen zugänglich. Man muss keinen Eintritt zahlen, einfach nur klingeln und wird hineingelassen. Einmal im Raum, muss man sich aber den Zugang erarbeiten. Man muss sich zum Beispiel erstmal in die reichen Bestände des Kupferstich-Kabinetts vertiefen. Doch dann bekommt man die gewünschten kostbaren Originale, die größten Schätze der Kunstgeschichte persönlich gebracht. Sie werden – Sie kennen es alle – auf kleinen Tischstaffeleien aufgestellt und man darf sie aus größter Nähe betrachten. In diesem Raum also hingen Paula Doepfners Arbeiten an den Wänden. Ich habe sie quasi im eigenen Haus entdeckt und sie zogen mich sofort in den Bann.

Mein erster Eindruck war, wie zart die Zeichnungen sind. Aus der Ferne entzogen sie sich fast einer visuellen Fassbarkeit. Beim Näherkommen empfand ich ihre Schönheit, Leichtigkeit, das Schwebende, aber auch das Geheimnisvolle. Zuordnungsversuche zu Gegenständlichem zu identifizieren, gelang nicht. Auch wenn es entfernt daran erinnerte, sind es keine Naturdarstellungen von Wolken, Zweigen, Landschaften. Trat ich wieder einen Schritt näher, sah ich, dass die Linien unterbrochen sind, nicht glatt durchgezogen, sondern immer wieder aussetzend wie ein stotternder Strich. Erst aus großer Nähe ist zu erkennen, dass es Buchstaben sind, sehr fein mit dem dünnst möglichen Stift in Druckschrift gesetzt, aneinander gekettet zu hauchdünnen Linien, die an Knotenpunkten verdickend zusammenlaufen und eine netzartige Nervatur aufweisen, die sich über die gesamte Bildfläche zieht. Beim genaueren Betrachten sind es aber eben doch gar keine Linien, sondern es ist Schrift. Die Schrift offenbart ihren Charakter als lesbare Schrift. Was bedeuten diese Miniaturbuchstaben, die so kleingeschrieben sind, dass man eigentlich eine Lupe benötigt, sie zu lesen? Besonders in diesen Ballungen, dort, wo sie verdichtet übereinander liegen, fragt man sich, wie kann man das ohne Lupe eigentlich erkennen? Betrachtet man sie noch intensiver, lassen sich diese Buchstaben aber zu Worten und weiter zu ganzen Sätzen verweben. Dabei enthüllen sie schnell die dunkle Aura, die sie umgibt. Von einer durchgängigen Lesbarkeit ist man noch immer weit entfernt, auch wenn man beginnt, Leserichtungen zu folgen und den Spuren nachgeht. Man gerät in einen Sog, wird in das Bild hinein gezogen, es entsteht ein Sog des Entzuges. Dies ist ein bekanntes Phänomen der frühen Abstraktion, zum Beispiel wenn Gegenstände von den Chiffren abgelöst werden. Die Buchstaben sind mit äußerster Präzision gesetzt und es lässt mich auch an Kalligrafie denken, vielleicht an japanische Kalligrafie, bei der nach einem langen Vorbereitungsprozess, die Zeichen dann absolut kontrolliert und perfekt unmittelbar gesetzt werden.

Dass die Eröffnung der Ausstellung Paula Doepfner „Darkness at the break of noon“ bei uns im Kupferstich-Kabinett Dresden damals auf den 90. Jahrestag der Reichspogromnacht fiel, entfaltete eine ganz eigene Bedeutung. Denn die systematische Verfolgung der Juden in Deutschland, die nur wenige Jahre später in dem größten und grausamsten Massenmord der Menschheitsgeschichte gipfelte, ist auch ein immer wiederkehrendes Thema der Arbeiten von Paula Doepfner. Es ist zugleich ein Element, das die Künstlerin mit Hans Platschek verbindet. Denn Hans Platscheks Großeltern sowie seine Tante mit ihrem Mann und ihren gemeinsamen Kindern fielen dem NS-Terror zum Opfer. Während Hans Platschek mit seinen Eltern und dem jüngeren Bruder nach Uruguay entkam, wo er in Montevideo aufwuchs.
Der wiedererstarkende Antisemitismus und Rechtsextremismus in Deutschland wie auch in anderen Teilen der Welt zeigt, wie unabdingbar und existenziell wichtig es ist, die Auseinandersetzung mit dem Thema zu suchen. Ich glaube, man kann nur von wenigen Künstlerinnen und Künstlern behaupten, dass ihre Werke eine multitemporale Perspektive einnehmen. Und eine dieser Künstlerinnen ist Paula Doepfner. Ihre Grafiken wie ihre skulpturalen Werke zeugen von einer tiefen Beschäftigung mit der Vergangenheit, sprechen im Jetzt mit uns, lassen uns innehalten und regen an, über unser zukünftiges Verhalten nachzudenken, in einer Zeit, in der unsere demokratische Grundordnung vor große Herausforderungen gestellt wird.

Meine Entscheidung, Paula Doepfner mit dem Hans Platschek-Preis zu ehren, habe ich daher mit großer Überzeugung getroffen. Paula Doepfner wurde 1980 in Westberlin geboren und studierte von 2002 bis 2008 Bildende Kunst an der Universität der Künste in Berlin sowie am Chelsea College of Art and Design in London. Es folgten mehrere Dutzend Ausstellungen in vielen europäischen Ländern, aber auch in den USA, an denen alle Paule Doepfner beteiligt gewesen ist, allein fünfzehn Einzelausstellungen seit 2005. 2015 war sie Artist in Residence am Goethe-Institut in Washington D.C., und 2021/22 erhielt sie das Else-Heiliger-Stipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung, um nur einige Stationen zu nennen. 2008 schloss sie ihr Studium als Meisterschülerin von Rebecca Horn ab. Und wenn man sich dies vergegenwärtigt, erkennt man auch in den Werken beider Künstlerinnen eine ähnliche Ambivalenz von filigranem Charakter und Brutalität. Rebecca Horn war es auch, die Paula Doepfner schon während des Studiums empfahl, sich künstlerisch mit der Schoa auseinanderzusetzen. Zitat, „nur hatte ich damals selbst das Gefühl, noch nicht so weit zu sein. Wenn man solch ein Thema angeht, muss man sich das wirklich erarbeiten. Ich wollte die Orte wirklich gesehen und alles dazu gelesen haben“, sagt Paula Doepfner selbst dazu.

Wer sich mit ihren Arbeiten beschäftigt, wird erkennen, mit welch tiefer Hingabe sie sich dem Thema zugewandt hat, und dass sie es sich zweifellos erarbeitet hat. Ihre Zeichnungen sprechen eine multidimensionale Sprache. Sie greifen Ereignisse aus der Vergangenheit auf, führen uns diese heute vor Augen und beeinflussen damit unweigerlich unser zukünftiges Handeln. Die Einflüsse für diese Textzeichnungen strömen aus den unterschiedlichsten Richtungen auf Paula Doepfner ein. Bei Hirnoperationen, die an der Charité in Berlin durchgeführt werden, darf sie anwesend sein und skizziert die von den Ärzten freigelegten Nervenbahnen der Patientinnen und Patienten. Diese Arbeiten bilden den Ausgangspunkt. In einem nächsten Schritt wird die Nervatur in einen Text umgewandelt. Auf hauchdünnem lichtdurchlässigen Gampi-Papier, das aus den Fasern des aus Japan stammenden Gampi-Strauches gewonnen wird, zeichnet Paula Doepfner Texte mit einem Stift, dessen Mine selbst nur 0,1 Millimeter dick ist, also der dünnst möglichen Stärke. Dass sie die Texte der unmittelbaren Lesbarkeit entzieht, fungiert als Barriere, die man bewusst überwinden muss, um das dahinter verborgene zu erkennen. Denn die Texte geben Inhalte wieder, die, wie sie selbst sagt, nur schwer auszuhalten sind. Sie handeln von Qualen und Leid von Menschen, das nur schwer in Worte zu fassen ist.

In den beiden Arbeiten, „I got nothing, Ma, to live up to“ und „Darkness at the break of noon“, beide Titel sind Zitate of Bob Dylans Song „It’s Alright, Ma (I’m Only Bleeding)“, verarbeitet sie Alwin Meyers Buch „Vergiss Deinen Namen nicht – Die Kinder von Auschwitz“. Darin kommen Menschen zu Wort, die als Kinder die Tötungsmaschinerie der Nationalsozialisten überlebt haben, oft als einzige in ihrer Familie. Die dabei sehr präzise beschriebenen Grausamkeiten, deren konkrete Vorstellung man beim Lesen gar nicht ertragen kann und vielleicht nicht möchte – die Verdrängungsmechanismen treten sofort in Kraft – haben auch Paula Doepfner oft zum Innehalten bewogen und dafür gesorgt, dass der Werkprozess über ein Jahr gedauert hat. An den Stellen, wo die Nervenbahnen einander berühren und zu Verdickungen oder Knoten zusammenlaufen, waren die Inhalte besonders schwer auszuhalten, so wie Paula Doepfner es selbst beschreibt. Bei der Relektüre des Buches „Die Kinder von Auschwitz“, was ich selbst anlässlich dessen gemacht habe, ist mir aus aktueller Perspektive klar geworden, wie sehr das Buch eigentlich Fragen nach transgenerationalen Auswirkungen von Traumata aufwirft, eines der zentralen Themen aktueller Hirnforschung. Man kann nämlich inzwischen Folgen von Traumata bis in die nächsten Generationen neuronal nachweisen, zum Beispiel im Stresszentrum der Menschen.

Paula Doepfner betreibt seit acht Jahren im OP-Saal in der Charité Berlin zeichnend ihre künstlerische Forschung. Es treibt sie die alte Frage um: wie kann das Unsichtbare sichtbar gemacht werden? Neben dem Neurochirurgen stehend, blickt sie direkt in das freigelegte Feld des Gehirns, sozusagen auch auf das freigelegte Feld der Nervenbahnen. Gleichzeitig blickt sie aber auch auf den Bildschirm, auf dem in Vergrößerung alles in einer geklärten Weise zu sehen und abzulesen ist. Sie sagt auch, dass die wiederkehrenden Strukturen sie an karge Landschaften erinnern, an Steppe zum Beispiel oder Winterlandschaften.

Blickt man mit kunsthistorisch geschultem Blick auf Paula Doepfners Arbeiten, erkennt man mitunter eine weitere Ebene, die zugleich verdeutlicht, wie intensiv sich die Künstlerin mit Themen auseinandersetzt, bevor sie sie verbildlicht. Denn verfolgt man den Verlauf der Linien in „I got nothing, Ma, to live up to“ genau, erscheinen manche wie die Konturen von menschlichen Körpern. In der Tat beziehen sich diese Linien auf den „Bethlehemitischen Kindermord“ von Pieter Bruegel dem Älteren. Man könnte also sagen, gleich zwei menschliche Grausamkeiten werden hier übereinander geblendet und im wahrsten Sinne des Wortes in das Werk eingeschrieben. Neben Alwin Meyer sind es Texte von Anne Carson, Auszüge aus Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ oder zum Beispiel auch Paul Celans Gedicht „Engführung“. Von Celan ist auch eine Arbeit hier auf der art Karlsruhe zu sehen. Es überrascht nicht, dass sie sich so intensiv mit Celan befasst hat. Denn bei seinem Lebensthema, des Sprachverlusts nach dem Erleben von Traumata und der Frage wie dieser Sprachverlust durch Dichtung überwunden werden kann, ist es naheliegend, dass das für Paula Doepfner eine sehr zentrale Fragestellung ist.

Celans späte Gedichte, von Lehrstellen durchzogen, bröckelnd, abbrechend, verstummend und von Fachbegriffen eines naturwissenschaftlichen Spezialwissens durchdrungen, können vom Leser kaum mehr entschlüsselt werden. Auch bei Paula Doepfner entsteht nach meiner Wahrnehmung eine extreme Spannung zwischen einer wissenschaftlichen Sachlichkeit – man könnte fast sagen, einer sachlichen Unerbittlichkeit des Dokumentarischen, wie sie zum Beispiel in ihren Arbeiten mit dem Istanbul-Protokol zeigt, das Folter dokumentiert – und gleichzeitig dem Versuch, etwas, das außerhalb jeglichen Verstehens liegt, mit künstlerischen Mitteln zu erfassen.

Als Paula Doepfner ihre ersten Textgrafiken schuf, hatte der russische Angriffskrieg in der Ukraine noch nicht begonnen und der Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 mit all seinen Folgen war noch nicht zu erahnen. Aber ich würde sagen, ihre Arbeiten sensibilisieren uns auch für die langfristigen Beschädigungen des Humanen. Text bildet das zentrale Element in Paula Doepfners Werken. Dabei schafft sie es, die verschiedensten Gattungen, ob Gedichte, Erzählungen oder Liedtexte auf eine einzigartige Weise mit Themen der klassischen bildenden Kunst und aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen zu verknüpfen. Sichtbar bleibt aber immer das Prozesshafte. Darauf will ich noch kurz zu sprechen kommen. Dieses Prozesshafte, das kommt besonders in ihren plastischen Arbeiten zum Vorschein. „Death Letter Blues“ heißt zum Beispiel eine Arbeit, die sie vor vier Jahren geschaffen hat. Sie besteht aus einem Eisblock, in dem ein Blatt mit dem Text „I am myself. I am the enemy. Alone …“ eingefroren war. Und der Titel der Arbeit bezieht sich auf einen Song der Blues-Legende Son House und der Text selbst ist von der Dichterin Joyce Mansour. Paula Doepfner hat diesen Eisblock auf dem Rosa-Luxemburg-Platz aufgestellt und er ist geschmolzen. Bis der Eisblock und der Text auseinandergebrochen sind und er sich praktisch ganz von alleine aufgelöst hat. Dieser Veränderung, diesem Vorgang des Schmelzens, dem der Eisblock unaufhaltsam ausgesetzt war, schien sozusagen das lyrische Ich so lange standzuhalten, bis seine Worte zerrissen worden sind. Das ist einfach ein unheimlich starkes Bild, finde ich. Und man versteht dabei viel von ihrem Arbeiten. Man fühlt sich in diesem Zusammenhang an die schon bei Horaz aufgeworfene Frage erinnert, was gewichtiger sei, der Stein oder das Wort. Durs Grünbein hat die Frage zugunsten des Steines beantwortet, neulich, bei unserem Abend im Kupferstich-Kabinett Dresden. Aber ich denke, bei Paula Doepfner obsiegt das Wort.

Fast ganz ohne Wort kommen eine Reihe von plastischen Arbeiten der Künstlerin aus, die sich nochmal auf andere Weise mit dem Prozesshaften, mit der Veränderung und der Neuentstehung auseinandersetzen. Und zwar sind dies Objekte aus Panzerglasscheiben, zersplittert in unzählige Fragmente, aber nicht zerbrochen. Farben sind auf die Gläser aufgetragen. Sie werden einiges auch auf dem Messestand sehen. Diese Arbeiten entfalten je nach Aufstellungsort eine ganz andere Wirkung. Paula Doepfner recycelt sozusagen die Scheiben und gibt ihnen so eine neue Bestimmung. Die Wirkungen, die dabei entstehen, entfalten sich so individuell wie die Sprünge im Glas selbst. Und letztlich könnte man sagen, so wie die Schriftbänder in ihren Zeichnungen. Paula Doepfner sagt über ihre Arbeiten selbst, dass sie hoffentlich möglichst allgemeingültig seien. Doch lässt man sich einmal auf sie ein, lassen sie einen nicht mehr los. Sie mögen auf den ersten Eindruck fragil erscheinen, ihre Komplexität offenbart sich erst bei genauer Betrachtung.

Die Schwermut, die besonders ihren Zeichnungen zu eigen ist, zeugt von einer tiefgründigen Auseinandersetzung mit dem Abgründigen des Menschseins, das mich sofort gepackt hat und nicht mehr loslässt. Die unbeabsichtigte Aktualität kann zugleich als Mahnung verstanden werden. Schauen wir genau hin und sehen wir, was passiert und schauen wir nicht im entscheidenden Moment weg. Deshalb liegt es mir besonders am Herzen, dass du, liebe Paula Doepfner, in diesem Jahr mit dem Hans Platschek-Preis ausgezeichnet wirst. Herzlichen Glückwunsch!

Prof. Marion Ackermann
Februar 2024