Landkarten der Trauer von Oliver Koerner von Gustorf

Hans Platschek-Preisträgerin Paula Doepfner verarbeitet Textfragmente zu komplexen Liniengeweben

Äste, Adern, Nervenbahnen. Etwas, das in einem Bach treibt, haarfeine Algen, Ketten aus Laich. Spinnweben, Blütenfäden, die vom Wind aufgeweht werden, Haare von Tieren oder Menschen, die sich in Stacheldraht verfangen. Milchstraßen, Nebel aus Staub und Gas, das Licht von Planeten, die schon längst gestorben sind. Paula Doepfners Tintenzeichnungen auf Japanpapier haben etwas Kartografisches, die Anmutung von Landschaften, die von Strömen und Wegen durchzogen sind. Sie führen in einen Kosmos, der mikroskopisch oder gewaltig sein könnte. Sie zeigen unzählige feine Einzelheiten, fragile Welten. Zugleich öffnen sie sich zu einem gewaltigen Raum, in dem alles ineinander verschlungen ist. Sie tragen Titel, die wie Blues-Balladen klingen. Aber das Leid, das sie adressieren, scheint kaum beschreibbar. Dabei ist es atemberaubend faktisch – bis ins kleinste grauenhafte Detail.

„l got nothing, Ma, to live up to“ ist der Titel eines zwischen 2022 und 2023 entstandenen Werks, das gerade in Doepfners Ausstellung „Darkness at the break of noon“ im Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Museen in Dresden zu sehen war. Beide Titel sind Zitate aus dem Bob-Dylan-Song „It’s Alright, Ma (I’m Only Bleeding)“. Ein Jahr hat Doepfner an der Zeichnung gearbeitet. Das Liniengewebe auf dem großformatigen Bild beruht auf Skizzen von Nervenbahnen und Hirnarealen, die sie live bei Obduktionen und Operationen in der Neurochirurgie an der Charite Berlin angefertigt hat. Nur bestehen die Verästelungen aus Schrift, aus winzig kleinen, einen Millimeter messenden Buchstaben, die sie mit dem bloßen Auge aneinanderreiht.

Der kaum lesbare Text stammt aus dem Buch „Vergiss deinen Namen nicht. Die Kinder von Auschwitz“ von Alwin Meyer. Jahre lang hat Meyer nach Überlebenden gesucht, die als Kinder deportiert wurden, ihre Erinnerungen protokolliert, sie befragt, wie sie danach weiterlebten. Andere Textzeichnungen in der Ausstellung beruhen auf dem „Istanbul-Protokoll“, einem UN-Handbuch, das zur Dokumentation von Folter dient, Gedichten von Paul Celan und der kanadischen Poetin Anne Carson. In ihrer Arbeit „YOU and ME (Atemzüge eines Sommertags)”, die zwischen 2016 und 2017 in Rom entstand, verarbeitet Doepfner die Entwürfe von Robert Musil zum gleichnamigen Kapitel aus dessen „Mann ohne Eigenschaften“, in dem die Geschwister Ulrich und Agathe von Utopien und einem neuen, mystischen Zustand träumen, während der Erste Weltkrieg beginnt. Die menschliche Katastrophe, der Horror der Zivilisation, sind im Werk der 1980 in West-Berlin geborenen Künstlerin allgegenwärtig.

Ihre Professorin Rebecca Horn habe sie bereits im Studium ermutigt, zur Shoah zu arbeiten, erzählt sie. „Nur hatte ich damals selbst das Gefühl, noch nicht so weit zu sein. Wenn man solch ein Thema angeht, muss man sich das wirklich erarbeiten. Ich wollte die Orte wirklich gesehen und alles dazu gelesen haben.“ Letzten Endes hat es jetzt 20 Jahre gedauert, bis sie dachte, etwas formulieren zu können. Latente Gewalt ist bereits in früheren skulpturalen Arbeiten spürbar, in denen Doepfner mit zersprungenem Glas und Blüten gearbeitet hat. Doch ihre Auseinandersetzung mit der Schoa und die Verleihung des Hans-Platschek-Preises auf der art KARLSRUHE fallen nach den verheerenden Terroranschlägen der Hamas und dem Krieg und der gegenwärtigen humanitären Katastrophe in Gaza in eine angespannte Zeit. „Eine beeindruckende Aktualität“ attestiert Marion Ackermann, Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und diesjährige Jurorin des Hans Platschek-Preises für Kunst und Schrift, den Textzeichnungen von Paula Doepfner. Diese Aktualität hat Sprengkraft. Noch nie waren die Fragen nach Antisemitismus, Rassismus, der Umgang mit Begriffen wie „ethnischer Säuberung“, „Genozid“ oder „Ghetto“ umstrittener, die Debatten polarisierter. Und da sind auch Fragen, die angesichts von Doepfners ätherischen, fast mystisch anmutenden Zeichnungen im Raum stehen: Wie sollen wir uns erinnern? Was kann Kunst dabei leisten oder vielleicht ändern? „Es geht im Moment nur noch darum, auf welcher Seite man steht. Aber für mich ist es unmöglich, nur eine Seite einzunehmen‘, sagt Doepfner. Wir sprechen über die Frage, ob der Holocaust in seiner Unbegreiflichkeit quasi außerhalb der Geschichte steht. Oder ob wir gar dazu verpflichtet sind, zu vergleichen, Ähnlichkeiten wahrzunehmen, um zu verhindern, dass aus der gleichen Ursache dieselbe Katastrophe folgt. „Ich bin der Meinung, dass der Holocaust in der menschlichen Geschichte singulär ist“, antwortet sie. „Das heist aber nicht, dass dadurch anderes Leiden relativiert wird.“

Dieser universelle Blick auf das Leid anderer zeichnet ihre Arbeit aus. So poetisch und zart das Ergebnis anmutet, so extrem ist ihre Praxis. Bei den Operationen in der Charité stand sie direkt hinter dem Chef der Neurochirurgie. Sie erzählt ruhig von den Menschen, die fast vollständig von Tüchern abgedeckt seien, nur der aufgesägte oder aufgebohrte Schädel gucke heraus. Der Geruch des Blutes und die kleinen Fontänen haben sie zunächst gefordert. Die Hirnmasse werde vorsichtig zur Seite geschoben, und dann könne man die Nervenbahnen sehen. Auch sich vorzustellen, wie Doepfner Schilderungen von Folter durch Elektroschocks, Folter an den Zähnen oder durch Ersticken transkribiert, ist verstörend. Wie sie die Protokolle der Kinder von Auschwitz in Schriftbilder transformiert, die von medizinischen Versuchen, Ratten- und Hundebissen berichten, die ihren Namen und ihre Herkunft nicht kannten, nicht wussten, dass Menschen natürlich sterben können, sondern dachten, alle werden erschossen, erschlagen und vergast. „Für mich war es das Wichtigste, die Stimmen der Kinder an mich heranzulassen, die in Alwin Meyers Buch zu Wort kommen“, sagt Doepfner. Ich erzähle, wie schwierig das mit der Poesie gerade für mich sei. Paul Celans „Todesfuge“ wurde in den 1970er-Jahren von Lehrern, die selbst Soldaten und Nazis waren, statt Fakten und Antworten wie ein Exorzismus heruntergebetet: „Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends / wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts / wir trinken und trinken / wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng …“ Die Worte „Gaskammer“, „Krematorium‘“, „herausgebrochene Goldzähne“, „Berge von abgeschnittenen Haaren“ fielen nicht. Doch tatsächlich ist der jüdische Lyriker Celan, der sich 1970 das Leben nahm, auch jemand, der durch die Schoa gebrochen wurde. Und Doepfner gibt ihm – wie auch den KZ-Kindern oder Folteropfern – nicht nur eine Stimme, sondern verwandelt diese Stimme in etwas fast Materielles, Körperliches, das nicht nur symbolisch ist, sondern ein Rest, eine Spur von etwas, von Sprache, von Leben, auch dem eigenen. Kein Bild, keine Poesie, sondern etwas, das forensisch, faktisch betrachtet werden muss.

Aufwühlende Bilder könnten allenfalls eine Initialzündung sein, Mitgefühl für andere, vom Krieg und einer mörderischen Politik betroffene Menschen aufzubringen, schrieb Susan Sontag in ihrem berühmten Essay „Das Leiden anderer betrachten“ (2004). Man solle es jedoch zur Seite rücken, um „stattdessen darüber nachzudenken, wie unsere Privilegien und ihr Leiden überhaupt auf der gleichen Landkarte Platz finden und wie diese Privilegien – auf eine Weise, die wir uns vielleicht lieber gar nicht vorstellen mögen – mit ihren Leiden verbunden sind“ Paula Doepfner hat begonnen, solch eine Landkarte zu zeichnen. Darauf ist auch ablesbar, welche Arbeit uns noch bevorsteht.

Oliver Koerner von Gustorf
Februar 2024

Artikel „Landkarten der Trauer – Platschek-Preisträgerin Paula Doepfner“, erschienen im Monopol Magazin.