Arktisches Violett

7 Blätter für Paula Doepfner

 

1 Bildschrift und Schriftbild

Im Allgemeinen hat der Künstler als Bildermacher und Objektebastler zur Welt der Texte und zu dem, was die Schriften vorgeben, ein pragmatisches Verhältnis. Schrift gibt es im Zusammenhang der Kunstwerke meist nur in reduzierter Form, als Zitat oder Stichwort für die eigene Ausdruckswelt, Fußnote und Titel am Rand der Bilder. Die verbreitetste Form ist der Begleittext im nachhinein, alles, was die Kunstwerke umwuchert in Form von Bildbeschreibungen, Theorien der Kunstgeschichte, Artikeln in art magazines oder Kommentaren in Katalogen (so wie im vorliegenden Fall).

Über Jahrhunderte hinweg aber gab es Schrift in vielerlei Spielarten auch auf der Fläche des Tafelbildes. Zu Zeiten des intensiven Christentums, in der gotischen Malerei, war die Heilige Schrift Grundlage fast aller Bilder. Nur weniges, was gemalt, in Holz geschnitzt, in Metall gegossen wurde, existierte jenseits der Schrift. Üblich waren Bibelzitate, die Worte der Evangelisten, in Form von Spruchbändern oder Spruchblasen, als Inschrift im Bild und mitunter auch auf dem Rahmen. Das änderte sich in der Renaissance mit der Einführung der Zentralperspektive. Nun mußte die Schrift als Gegenstand, Artefakt aus Buchstaben, eingefügt werden. Sie mußte, sagt der Kunsthistoriker Peter Bürger, eigens motiviert werden, »(zum Beispiel als Seite in einem aufgeschlagenen Buch), andernfalls würde sie vom Betrachter als ein die Illusion störender Fremdkörper empfunden«.

Mit der Rückkehr der heidnischen (mythologischen) Motive und im Heraufkommen des Humanismus und des Neuplatonismus gewannen die Verse der Klassiker (Horaz, Vergil, Augustinus) an Bedeutung. Von nun an wimmelte es von Merksprüchen, Rätselworten, Hieroglyphen, philosophischen Aphorismen. Auf den Bildern der niederländischen Maler feiern die Sprichwörter und Bauernweisheiten ein fröhliches pikturales Eigenleben. Auch die zeitgenössische Literatur gab nun die Motive vor, die weltliche wie die geistliche Dichtung des Barock. Das Verhältnis war nicht mehr nur das von literarischer Bildvorgabe und Illustration: Emblematik und Schriftsinn traten in einen unabhängigen Wettstreit um die tiefere Bedeutung, sie kreuzten sich und schufen so einen eigenen ikonographisch-semantischen Raum.

Von Ovid bis zu Rubens und weit über die Goethezeit hinaus ging das so, befeuert noch von der Erfindung des Buchdrucks, wechselnd mit den malerischen Techniken und den historischen Anlässen und Umständen. Dann aber kam es, zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, zu einem massiven Einbruch der Schrift in den Bildraum. Goyas Aquatinta-Zyklen der Caprichos und der Desastres de la Guerra mit ihren sarkastischen Kommentaren, vom Maler selber verfaßt, stehen stellvertretend für diesen Prozeß.

Bald gab es die ersten Zeitungen, sie beerbten die Flugblätter und Proklamationen. Schon seit den Zeiten der Reformation hatte Propaganda sich der Graphik als Verstärker der Schrift bedient, nun wurde das Verhältnis zunehmend verwickelter, das Erscheinungsbild aggressiver.

Forciert durch gesellschaftliche Krisen und Entwicklungen, begannen Schriftbild und Bilderschrift auseinanderzustreben, das Nachsehen hatte die Malerei. Aber nicht lange, dann begann sie sich wieder auf sich selbst und die Eigengesetze des Visuellen zu besinnen. Sie schloß sich in ihre Ästhetik ein, wehrte sich mit den verführerischen Mitteln der optischen Illusion, die nur ihr zu Gebote standen. Die sich abzeichnende Autonomie der modernen Künste aber (und nur das war schließlich Moderne) sollte von nun an zugleich auch die der modernen Dichtung sein.

Victor Hugo, Dichter und Zeichner zugleich, war einer ihrer Vorreiter, Stéphane Mallarmé ihr präzisester Herold; ihnen und ihrem Lehrmeister und Stichwortgeber Charles Baudelaire folgten die Freigeister der Moderne (die aus vielen Gründen in Frankreich, dem Ursprungsland aller künftigen Revolutionen der westlichen Kultur, am schnellsten voranschritt). Guillaume Apollinaire war einer der Überbringer der neuen Nachricht: Seine Calligrammes, graphische Ausbrüche aus der Enge des alphabetischen Raumes, sprengten die Buchseiten, die solange auf die Schrift und ihr Druckbild beschränkt waren.

Von nun an wanderte die Schrift in die modernen Künste ein und ließ sich dort, vollkommen souverän, nieder.

Dada entdeckte das Lautgedicht als Spielerei mit den Mitteln des Setzkastens – denn zuerst waren die Lettern da, ihnen folgten die Laute. Raoul Hausmann ließ Plakate drucken, auf denen es nur noch Buchstaben gab, jedoch in sprachwidrigster Kombination, als bloßer Konsonantensalat. Tristan Tzara und seine Mitdadaisten waren die ersten, die auf Flugblatt- und Magazinseiten Texte schräg übereinander druckten und mit Graphiken, Symbolen und Werbesprüchen derart versetzten, daß dem Betrachter Hören und Sehen verging. Es war dies eine Parallelaktion zur gleichzeitig heraufkommenden abstrakten (man könnte auch sagen analytischen) Malerei, jener Malerei, die zum ersten Mal alle ihre Darstellungsformen in Frage stellte. In kurzer Folge ging die Revue der modernen Malerei über die Bühne: Futurismus, Fauvismus, Expressionismus, Kubismus, Verismus, Konstruktivismus, Orphismus, Vortizismus, Suprematismus usw.

Schon weniger später wurden all diese Ismen systematisch zerlegt, ironisiert und aufeinander bezogen. Hans Arp, der Dadaist, und El Lissitzky, der Konstruktivist, waren die ersten, die in einer gemeinsamen Studie sämtliche Strömungen der Avantgarde cool unter die Lupe nahmen und in einem Buch illustrierten. Nach ihnen kroch, wie die Schlange aus dem Korb des Fakirs, der Surrealismus ans europäische Tageslicht und machte mittels Collage, Psychoanalyse und Überblendungstechnik seinen eigenen Traumschnitt durch die Schriften, die Bilder, Objekte und Photographien.

Daneben hatte es immer die Selbständigen gegeben, die Außenseiter der Moderne, die ihrer eigenen Eingebung folgten. Zu den bekanntesten dieser Solitäre gehört sicher Paul Klee, der eine ganz eigene Erzählform von Bildschrift und Schriftbild entwickelte, ein graphisch-poetisches Amalgam. Im zwanzigsten Jahrhundert hielt diese Stellung beinah als einziger der rätselhafte Cy Twombly, ein Amerikaner im Popzeitalter, dem der Philosoph Roland Barthes eine bahnbrechende Studie widmete (»Cy Twombly oder Non multa sed multum«). Nicht vielerlei treiben, sondern eine Sache intensiv und genau.

Als autonomer Kopf verfolgt der Künstler in Bezug auf die Literatur seine eigene Strategie. Er nimmt die Texte wahr, liest seine Lieblingsschriftsteller, lernt von den Philosophen, schluckt, was es an Theorie zum Vorankommen braucht (schluckt es oft brav herunter wie eine Medizin – die bittere Medizin der Konzepte). Die Bücher beschäftigen ihn eine Weile, wie jeden anderen Menschen auch. Aber im Atelier, bei der Arbeit an der Leinwand, mit dem formbaren Stoff, sind sie beiseite gelegt und arbeiten nurmehr im Hintergrund, auf derselben wüsten Ebene wie die Traumreste und die Medienereignisse.

Eine besonders ungewöhnliche Form der Verwendung von Schrift findet sich in den Bildwerken der Berliner Künstlerin Paula Doepfner.

 

2 Ruhiges Auge, ruhige Hand

Paula Doepfner arbeitet in ihren Bildern mit Schrift. Man erkennt es nicht auf den ersten Blick, nicht aus der Ferne. Der Betrachter muß sich den oft großformatigen, hinter Glas fixierten, filigran anmutenden Blättern erst nähern, dann werden aus Linien, Kurven, graphischen Balken, Gittern und Netzen mit einemmal Schriftzeilen. Und noch dichter muß er herantreten, wenn er entziffern will, was da geschrieben steht, so dicht wie kein Museumswärter es zuläßt, weil sonst der Alarm ausgelöst werden könnte.

Nun zeigt sich: es sind tatsächlich Buchstaben, ganze Kolonnen aus winzigen schwarzen Großbuchstaben, aus denen das Liniengeflecht oder die Gitterstruktur auf ihren Bildern besteht.

Sie sind in der zierlichsten Handschrift geschrieben, mit schwarzer Tinte, einem Fineliner-Stift der geringsten Stärke (Rapidograph 0,13), in stundenlanger, tagelanger Geduldsarbeit. Es braucht dazu, das begreift man sofort, ein ruhiges Auge und eine ruhige Hand. Über beides verfügt die Künstlerin in besonderem Maße, was man schnell merkt, wenn man sie kennenlernt. Ihr präziser Blick, ein insistierender, eindringlicher Blick, der den Gesprächspartner festhält und fordert, sind das erste, was einem auffällt. Dazu die Hände – kleine, energisch zupackende Handwerkerhände. Ich habe den Händedruck nicht ausprobiert, aber ich könnte wetten, er ist ziemlich fest.

Paula Doepfner ist ein ungewöhnlich freundlicher Mensch. Sie hat die Gabe der konzentrierten Aufnahmebereitschaft. Sie wendet sich dem anderen mit einer strahlenden Aufmerksamkeit zu, die in diesem Moment alles übrige ausschließt. Das besagt noch nichts über ihre Kunst, aber es geht ihr gewissermaßen voraus und liegt allem, was sie künstlerisch anfaßt, zugrunde. Wenigstens ist es ein Ansatz, von dem her die Genauigkeit ihrer Arbeiten sich besser erschließen läßt. Denn in allem steckt dieser durchdringende Blick, in allem der ordnende Duktus ihrer bestimmenden Hand. So verschieden die Werkgruppen sind – es gibt Arbeiten auf Papier, mit zertrümmertem Glas, Arbeiten unter Verwendung getrockneter Blumen, Sträucher und Baumäste, Arbeiten in Metallschalen und

Eisblöcken -: so ist es doch diese Eigenschaft, die alles zusammenhält und die scheinbar losen Enden verbindet.

 

3 Meditationsübungen

Was genau tut sie da? Sie bedeckt Blätter mit Schrift. Sie besetzt das Weiß des Papiers – einer besonders empfindlichen, halbtransparenten Papierart aus Japan, handgeschöpftes Gampi-Papier – mit lauter Miniatur-Majuskeln. Da spielt sich, könnte man sagen, auf einer Mikroebene ein stiller Zusammenstoß der Zivilisationen ab. Lateinische Schrifttradition, die Marschkolonnenschrift der welterobernden Römer, trifft auf asiatische Feinstofflichkeit und Zurückhaltung. Überall stößt man in ihren Arbeiten auf solche untergründigen Widersprüche und Gegensätze.

Da ist die Handschrift: aber was sie schreibt, sind keine persönlichen Notizen, sondern Zitate fremder Autoren. Da sind ihre Großbuchstaben in gestochener Schrift, aber so klein gehalten, daß sie die Grenze zum Unleserlichen streifen. Da ist Papier, aber es ist von der Art der Milchglasscheiben, hinter denen die Konturen der Dinge wie im Nebel verschwinden. Da gibt es Eisblöcke, in denen Pflanzen, Samen oder mit Filzstift beschriebene Blätter eingefroren sind, aber das Eis schmilzt im Laufe der Ausstellung, so ist es gewollt, womit die Konservierung nur von kurzer Dauer ist. Es gibt bei ihr Glas als Medium der Sichtbarmachung, als Schutzschicht, doch das Glas ist zersprungen, ist gewaltsam zertrümmert worden oder liegt als Scherbenhaufen am Boden und wird nun selbst zur Bedrohung. Es gibt Metallwannen, aber in ihnen steht Flüssigkeit, die das Metall korrodieren läßt bis es, vom Rost zerfressen, seine Farbe verliert.

Viele der Widersprüche sind also in Wahrheit Prozesse. Dieser Begriff hat seit Joseph Beuys einen neuen Klang in der Kunst. Die Betonung des Prozeßhaften überantwortet die Kunstwerke einer organischen Zeitordnung, liefert sie demonstrativ dem Verfall und der Zersetzung aus. Sie erzeugt damit eine neue Sensibilität für die naturgegebenen Veränderungen (Verwandlungen) des Materials (der Materie).

Daß auch Gemälde altern, war schon Marcel Duchamp aufgefallen, der es als erster in seiner ganzen Tragweite begriff. In den Museen sah er die nachgedunkelten, muffigen Farben der Meister aus seiner Jugendzeit, sah das Craquelée der erschöpften Leinwände und wußte nun um die Zukunft noch der frischesten Moderne. Es hat ihn so sehr entsetzt, daß er der Malerei abschwor und statt dessen eine große Hinterglasarbeit begann (»Le Grand Verre«), die ihn Jahrzehnte beschäftigte und doch unvollendet blieb, bis auch sie bei einem Transport zu Bruch ging. Der Künstler nahm es gelassen, es bestätigte ihn in seiner Haltung universeller Gleichgültigkeit. Später integrierte er die Spuren der Zerstörung in das Werk. Im Philadelphia Museum of Art kann man es heute in seiner demolierten Fassung besichtigen.

Und nicht zufällig war es Glas, das Material Glas, das ihm eine Fluchtmöglichkeit aus den Tunneln der Tafelbildmalerei eröffnete. Glas in seiner Funktion als Fenster und Raumteiler: zwei Scheiben Glas im Metallrahmen, in der Mitte des Raumes aufgestellt als (noch so ein Widerspruch) lichtdurchlässiger Paravent.

Auch Paula Doepfner hat eine Methode gefunden, mit den desaströsen Wirkungen der Zeit umzugehen. Wohlwissend, daß sie den Verfall niemals aufhalten kann, rückt sie ihn gerade ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Eines der Verfahren besteht darin, soviel Lebenszeit wie möglich in ein einzelnes Bild einzubringen. Darum die Konzentration auf die langsame Handschrift, darum die vielen meditativen Stunden des Kopierens von Hand vor der Staffelei. Es ist dieselbe Übung, der sich die Mönche jahrhundertelang in ihren klösterlichen Schreibstuben befleißigten, in der Zeit vor der Erfindung des Buchdrucks. Auch diese Schreibermönche waren Kopisten, Feinpinselmaler, die manche der Buchstaben mit Blüten und Blättern umrankten. Hier wie dort war das Abschreiben eine Übung in Demut und Geduld, über der man das eigene Leben, die Zeit vergaß. Es war aber zugleich auch der Prozeß einer physischen Aneignung, intensiver noch als das bloße Auswendiglernen. Was ist das gezielte Gedächtnistraining schon gegen die vielen Bewußtseinszustände, die einer beim Abschreiben durchläuft? Es heißt, daß viele der mittelalterlichen Kopisten nicht einmal des Lesens kundig waren, oft auch nur über passive, oberflächliche Lateinkenntnisse verfügten. Die Perfektion bestand darin, alles Persönliche, auch die eigene Handschrift, vollständig auszulöschen.

Soweit würde Paula Doepfner nicht gehen, warum auch? Bei der Arbeit an ihren Blättern benutzt sie übrigens keinerlei Hilfsmittel, weder Lineale noch Vergrößerungsgläser noch Brillen. Sie arbeitet mit bloßem Auge, was von einer geradezu phänomenalen Sehkraft zeugt – anscheinend handelt es sich um eine Sonderbegabung. Man ahnt, daß eine wie sie keinen Augenarzt braucht, daß ihr das Entziffern der Buchstaben auf den Lesetafeln dort wohl kaum Mühe bereiten dürfte. Vermutlich ist auch die kleinste Schriftpunktgröße ihr immer noch viel zu groß. Früher war es üblich, auf diesen Testtafeln auch Verse zu verwenden. Einmal las ich da, wie zur Veranschaulichung der Vergänglichkeit aller Dinge, als Gleichnis für den allmählichen Bewußtseinsschwund, in absteigender Schriftgröße die Zeilen:

Wenn du gestorben bist, wer denkt noch deiner?
Im ersten Jahr vielleicht ein Heer.
In zehen Jahren wohl noch einer,
Nach zwanzig Jahren keiner mehr.

 

4 Nomen, Nerven und Neuronen

Was aber bleibt dem Betrachter von dieser winzigen, kaum noch lesbaren Schrift? Man könnte sagen: die Verheißung der Lesbarkeit. Sie setzt etwas in Gang, das sonst nur die Bücher auslösen: das Bild lädt zur Lektüre ein und erschwert sie zugleich. Es kommt damit dem Ideal des offenen Buches (»Le Livre«) nahe, wie es der Dichter Stéphane Mallarmé als Kunstwerk in Bewegung konzipierte, wenn auch nie realisierte. Andererseits verweist solcher Schriftgebrauch auf das Grundproblem aller Hermeneutik – die Verstehbarkeit und Vieldeutigkeit der Texte.

Zunächst aber ergibt sich vor allem ein graphischer Eindruck. Nicht zufällig erinnern die Schriftranken, Schriftgeschlinge und die kreuz und quer über das Blatt sich verzweigenden Textzeilen an die neuronalen Netze, von denen die Hirnforschung spricht. Man könnte meinen, es handele sich um Schriftneuronen und Textsynapsen. Sie haben Ähnlichkeit mit den Zeichnungen der Gewebefeinstruktur des Zentralnervensystems, die einer der Mitentdecker der Neuronen, der spanische Mediziner Ramón y Cajal, bereits um 1900 dank einer neuen histologischen Färbetechnik anfertigen konnte.

Die Assoziation ist keineswegs willkürlich, sie folgt einem Motiv, das für Paula Doepfner zentral ist und zwischen vielen ihrer Werke die Gedankenverbindung knüpft. Es geht der Künstlerin, eigenen Angaben zufolge, um das Problem des Bewußtseins. Eine der Autoritäten, deren Schriften sie hierfür sichtet und ausgiebig zitiert, ist der australische Philosoph David Chalmers, Kognitionswissenschaftler und Vertreter einer nichtreduktionistischen Bewußtseinstheorie. Neben Passagen aus seinem Hauptwerk »The Conscious Mind« sind auf manchen ihrer Bilder Textauszüge aus dem Sammelwerk »Philosophy of Mind« zu finden, Positionen der Erkenntnisphilosophie von Descartes bis zur Gegenwart. Eines der verwendeten Zitate lautet so: »Ein zentrales Element der neurowissenschaftlichen Erforschung des Bewußtseins ist die Suche nach neuronalen Korrelaten von Bewußtsein.«

Das zugehörige Blatt trägt den Titel »Foundationed deep, somehow«, an seinem oberen Rand schwebt ein Büschel Minze, nach der Art der Herbarien als getrocknetes Pflanzenpräparat dem Papier aufgeklebt. Das Motto entstammt einem frühen Song ihres größten musikalischen Helden Bob Dylan (»My Back Pages«). Die Liedzeile steht hier, wie in vielen ihrer Arbeiten, als Mittler zwischen den parallelen Ausdruckswelten. Gut möglich auch, daß sie wie nebenbei auf die Rückseite des Blattes, das Nichtsichtbare des Bildes, verweist. Bei alldem spielen ihre Arbeiten (die Japanblätter, die Eisblöcke, die Glasscheiben) immer auch mit den Chancen der Lichtdurchlässigkeit – und sei es als optische Illusion. Denn in gewissem Sinn ist die Rückseite ihrer Bilder gleichzeitig die Vorderseite und umgekehrt.

Steht am einen Ende der Ausdrucksskala die sachliche Wissenschaftsprosa (hier in ihrer trockensten Variante von Analytical Philosophy), so am anderen Ende die Sprache der Dichtung. Beides kann bei ihr unvermittelt nebeneinanderherlaufen. Außer philosophischen Texten und Sachbuchzitaten finden sich reichlich Zitate aus Gedichten (so von Ungaretti und manchem deutschen Zeitgenossen), aber auch Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« und Fernando Pessoas »Buch der Unruhe« gehören zu den bevorzugten Referenzen. Daneben fesseln sie besonders die Schriften der Mystiker und die Idee, »daß die Schrift durch einen hindurchgeht«. Die titelgebenden Liedzeilen dagegen stammen alle von Sängern und Singersongwritern wie Bob Dylan, Bessie Smith, Odetta, Robert Johnson, Blind Willie Johnson und anderen. Sie weiten das Ganze in eine musikalische Dimension, nach dem Prinzip der Poetologie Stéphane Mallarmés: »Ich sage: eine Blume und … musikalisch hebt sich, Idee selbst und süß, die abwesende…«. Ein Zitat Giuseppe Ungarettis, verschwindend klein im italienischen Original unter einem großen getrockneten Brautstrauß gesetzt, bestätigt dies mustergültig: »Ewig / Zwischen einer gepflückten Blume und der geschenkten / das unausdrückbare Nichts.«

Daneben gibt es eigene Traumnotizen, die immer wieder das Problem des Bewußtseins umkreisen, sein Verschwinden und Wiederkehren, die Fokussierung auf das Objekt und sein Verschwimmen im Geiste. Die Illusion des Ichs als scheinbares Kontinuum von Bewußtsein.

 

5 Blumen im Eis

Und da sieht man sie also, alle die Blumen, jenseits des täglichen Gebrauchs, diesseits der neuronalen Netzwerke der Schrift (die das Vergessen markiert, weil sie Gedanken bewahrt für alle und keinen – den Sprachteilnehmern verfügbar zugleich und entzogen, jenseits des Einzelnen, der seine eigene Sprache, durch die Bücher hindurch, im Lauf eines Menschenlebens entwickelt).

Blumen, dem Anlaß entzogen – Geburtstag, Hochzeit und Festivität, aus den Vasen genommen, am Feldrain gepflückt, unter Laborbedingungen konserviert. Dabei wird schnell klar, daß es sich um sehr sterbliche Kunstwerke handelt. Blumen können sich lange halten, zwischen Buchseiten aufbewahrt, in Poesiealben hinterlegt, professionell präpariert in den Herbarien. Humboldts und Darwins botanische Sammlungen fallen einem hier ein, die naturhistorischen Bestände vieler Museen und Archive. Der Sammler ahnt, daß sein Kunstwerk ein Verfallsdatum hat, eine Zeitbombe tickte da unhörbar.

Man sieht sie gepreßt, fest eingespannt hinter Glas. Die getrockneten Blüten, die zerknitterten, zerrauften, zerfetzten Sträuße, die Geschenk- und die Hochzeitsbuketts und die zarten Angebinde, mit denen Liebende und Freunde einander beglücken, manchmal auch nur ein einzelnes, beinah schon skelettiertes Blatt – entrückt in die Sphäre der Kunst und des gestundeten Todes.

Paula Doepfner hat sich, entschlossener als ein Joseph Beuys oder eine Rebecca Horn, ihre Professorin an der Universität der Künste Berlin, in ihrer Arbeit auf die Sprache der Blumen konzentriert, eine klandestine Sprache, was sonst.

Mohnblüten, Thymian, Rittersporn, Enzian, Wildrose, Holunder, Anemone, Efeu, Japanisches Blutgras, Stiefmütterchen – viele der Pflanzen stammen aus eigener Zucht. Sogar der Farn und der Schachtelhalm mit ihren Ursprüngen aus anderen Erdzeitaltern, man glaubt es kaum, sind im Labor der Künstlerin selber gezüchtet worden. Andere wurden gefunden (so in Italien die Mimose) oder gekauft (wie die Lilien und die meisten der Orchideen) – besonders auf ihre Adernstruktur kam es der Künstlerin an.

Das Trockene und das Flüssige sind ein weiteres Gegensatzpaar in den Arbeiten der Paula Doepfner. Es gibt die gepreßten Pflanzen, Wasserentzug hat sie haltbar gemacht, und es gibt die im Eis konservierten, im Wasser schwimmenden, der Fäulnis überlassen und dem temporären Ausstellungsbetrieb. Ihr hervorstechendes Merkmal sind die Farbpigmente. Sie leuchten in allen Farben der Früchte dieser Erde. Eine der eindrucksvollsten Farbtöne ist ein bestimmtes Arktisches Violett, das oft wiederkehrt. Die Frage ist nur, wie lange die Leuchtkraft erhalten bleibt – eine offene Frage, nach der Logik des offenen Kunstwerks. Doch geht es der Künstlerin nicht um eine Ästhetik des Fragmentarischen, um unabgeschlossene oder aufgegebene Werke, die Umberto Ecos bekannte Studie umkreist. Ihre Themen sind vielmehr Gedächtnis und Vergänglichkeit, die eine Kunsttheorie, die von den Prozessen des Verfalls und der Auflösung selten behandelt, gern ausblendet. Darum wohl auch ihre Fixierung auf das Eis.

Im ewigen Eis, in den Bohrproben aus den Eisregionen des Erdballs, sind die wundersamsten Zeit-Raum-Informationen gespeichert. In Island zum Beispiel existiert eine Bibliothek (The Library of Water im Küstenort Stykkishólmur), in der man ein eigenes Archiv von Bohrkernen unterhält. Bis heute bedauere ich, daß ich der Einladung dorthin nicht folgen konnte, der Terminplan hat es verhindert. Aber vielleicht, denke ich, könnte Paula Doepfner ihren Weg an den Ort finden, den Roni Horn, die amerikanische Photokünstlerin mit ihrer Dokumentation berühmt gemacht hat.

In der Antarktis, wo seit vielen Jahren das Europäische Projekt für Ice Coring betrieben wird, hat es Bohrversuche bis in über 3000 Meter Tiefe gegeben, als deren Ergebnis das Eisalter auf bis zu 810.000 Jahre geschätzt werden konnte. Blumen, in Eis eingeschlossen, sind ein vorsichtiger Hinweis auf die frühen Prozesse der Erdentwicklung, auf geologische Zeitalter, in denen keinerlei organische Materie existierte, keine einzelligen Lebewesen, kein Chlorophyll und also auch keine Pflanzen. Wer die Menschen kennenlernt, liebt die Tiere, lautet ein chinesisches Sprichwort. Wer die Tiere kennt, liebt die Pflanzen, sagt eine Berliner Freundin, Schriftstellerin. Wer die Pflanzen kennt…

 

6 Berliner Atelier

Ich schwinge mich auf die Vespa. Besuchstermin im Atelier der Künstlerin, Nähe Alexanderplatz. Es ist ein Freitag im April, ein strahlender Frühlingstag in Berlin.

Paula empfängt mich am Lastenaufzug. Sie kennt mich länger, als ich sie kenne, als Leserin meiner Bücher. Da ist wieder ihr Blick: ihm standzuhalten, kostet mich Mühe. In diesem Augenblick sieht sie, was auch ich sehe, denke ich und weiß doch, daß sie anders sieht, anderes wahrnimmt, mit Sicherheit schärfer, genauer als ich.

Sie führt mich durch den Flur des Mehrzweckgebäudes, der junge Vermieter grüßt im Vorbeigehen, er beobachtet den Besucherverkehr in seinem Haus. Im Keller gibt es einen Technoclub, auf den verschiedenen Etagen Büros und Abstellräume; Aufkleber und Firmenschilder markieren hier und da das Revier. Gewohnt wird hier nicht, nur gearbeitet, gelegentlich auch gefeiert, bei Bedarf getanzt und in den Ecken geknutscht, vielleicht gibt tagsüber irgendwo jemand Kurse. Fremdsprachen, Kampfsport, Psychotherapie?

Ihr Atelier ist nicht groß, aber hinter der mehrfach abgesicherten Tür tut sich ein eigenes Reich auf. Schräg an die Wände gelehnt, stapeln sich ihre Bildobjekte in schweren Metallrahmen. Es gibt mehrere Schreibtische, eine lederne Sitzgarnitur, ein breites Zeichenbrett, Leuchtkästen und einige große Kühltruhen, daneben diverse Kühlschränke. Ein Pathologe, privat praktizierender Forensiker könnte so eingerichtet sein. Dann aber sind da die Pflanzenpressen, an der Wand entlang stehen Glasblöcke gereiht, auf Tapeziertischen sind Trockenblumen ausgebreitet. In einer Ecke hoch oben hängt ein verlassenes Wespennest. In einem Regal Bücher: vorwiegend sind es Gedichtbände, einige Romane auch, Fachliteratur. Dies sind die Gegenstände im Atelier.

Die Künstlerin gibt bereitwillig Auskunft. Freundlich beantwortet sie Fragen zu ihrer Arbeitsweise. Von Recherchen im Botanischen Gärten ist die Rede, von Museen, die sie regelmäßig aufsucht. Wie sich herausstellt, hat sie schon Stunden im Operationssaal verbracht, hat, wie die Erstsemester im Medizinstudium, Sektionsvorführungen in der Pathologie absolviert. Sie kennt die Hirnschnitte, hat das kranke Gewebe der Tumore mit eigenen Augen gesehen.

Woher sie ihre Anregungen nimmt, frage ich sie. Aus Kirchenräumen, Medizinlaboren, den Lesesälen der Bibliotheken, lautet die Antwort: »Überall dort, wo Erinnerungen gespeichert sind.«

Ich sehe mich um und begreife: Hier betreibt jemand seine Kunst wie eine eigene Wissenschaft. Darauf deuten die vielen Versuchsanordnungen hin: Pflanzen in Kühlfächern, Präparate in Gefriertruhen, ein improvisiertes Gewächshaus. Es ist der Arbeitsplatz einer Botanikerin, einer Pflanzenmorphologin, der es ganz ausdrücklich um die Struktur ihrer Objekte geht. Die Ähnlichkeit der Wurzelformen mit den Nervensträngen der höheren Lebewesen habe sie immer beschäftigt. Es fehlt auch nicht an einem Mikroskop. Dann zeigt sie mir Papierproben verschiedener japanischer Hersteller, handgeschöpftes, durchscheinendes Japanpapier aus den Bastfasern von Pflanzen, die es nur auf den japanischen Inseln gibt. Gampi, lerne ich, heißt der Papierbaum, andere Sorten sind aus dem Gewebe des Maulbeerbaums gemacht. Über diesen Papierbaum wüßte ich gern viel mehr, er könnte das Symbol für alle ihre Arbeiten sein.

In einer anderen Ecke des Ateliers stehen mehrere Transportkisten. Sie enthalten, gerade frisch angeliefert, eine Auswahl von Bruchglasscheiben aus ihrer Kreuzberger Nachbarschaft, Überbleibsel der Straßenkämpfe und Demonstrationen. Normalerweise landen sie im Müll, doch eine Glasereifirma, mit der es eine Vereinbarung gibt, überläßt sie ihr zur künstlerischen Weiterverwendung. Neben allem anderen, denke ich, ist hier auch eine Soziologin am Werk. Ungerührt sammelt sie die Zeugnisse antikapitalistischer Sachbeschädigung und stellt sie in den eigenen Kontext. Als Künstlerin muß sie sich nicht in den Vordergrund drängen, um sich politisch zu positionieren. Es genügt, die Zeugnisse alltäglicher Gewalt aufzugreifen und zu verfremden. Ob sie auch Gläser mit Einschußlöchern verwenden würde, frage ich sie. In Amerika vielleicht, erwidert sie auf ihre sanft bedächtige Art, die allem, was sie berührt, eine pazifistische, weibliche, humanistische Aura verleiht. Mir fällt ein Objekt der New Yorker Künstlerin Yoko Ono ein, der japanischen Musikerwitwe: ihre Skulptur »Das Loch«. Das Glas stammt aus dem Eingangsbereich des Dakota Buildings, jenes Apartmenthauses am Central Park, vor dem John Lennon am 8. Dezember 1980 nachts vor den Augen seiner Frau von einem Psychopathen erschossen wurde. »Season of Glass« hieß das erste Soloalbum, das Ono nach dem Mord an dem Idol einer ganzen Generation aufnahm. Darin finden sich die bemerkenswerten Liedzeilen: »Goodbye sadness… I don’t need you anymore«.

 

7 Always crashing in the same car

Erst vor kurzem ist David Bowie gestorben. Er war länger schon krank gewesen, hatte, was in der Welt der Prominenten niemand wissen durfte, an Leberkrebs gelitten. In einer Mail vertraut mir die Künstlerin an, es tue ihr leid, aber Bowie habe nie zu ihren Favoriten gehört.

Auch er hatte seine Berliner Zeit gehabt, damals Ende der 70er Jahre, als die Mauer noch stand. Der Kalte Krieg hatte ihm, auf der freien Seite, den Resonanzraum gegeben. In dieser Zeit entstand das Album »Low« mit dem Song »Breaking Glass« als Track Nummer zwei. Darin hieß es: »Baby, I’ve been / breaking glass / In your room again / Listen. / Don’t look at the carpet, / I drew something awful on it / See / You’re such a wonderful person / But you got problems oh-oh-oh / I’ll never touch you«.

Das ist die Sphäre, aus der Paula Doepfner ihre Anregungen schöpft. Das ist der Modus, in dem ihre subtilen Pflanzenarbeiten entstehen – als Gemeinschaftswerk von Auge und Ohr und Hand, immer dem Schriftsinn folgend, die inneren Antennen sind auf Empfang gestellt. Ihre Bilder bewahren Signale aus einem Raum, in dem viele Linien sich überkreuzen: es ist der Bewußtseinsraum unserer vorübergehenden Gegenwart.

Heute lebt Paula Doepfner in Rom. Es wird sich zeigen, wie ihr Experiment weitergeht. Ich bin dankbar, daß auch etwas von meiner Schrift nun wie im Bernstein in ihren Bildern aufgehoben ist.

 

Durs Grünbein
Juli 2016

Text für die Ausstellung „Paula Doepfner – Put it right here (or keep it out there)“ im Kunstverein Reutlingen.